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HESSE, Hermann



Gertrud

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Meine Mutter weinte beim Einzug in unsere hübsche Gartenwohnung und meinte, es sei nicht gut, im Alter noch auf fremden Boden verpflanzt zu werden. Ich aber fand es sehr gut, und die Teisers auch, und Brigitte half und ging meiner Mutter zur Hand, daß es eine Freude war. Das Mädchen hatte wenig Bekannte in der Stadt und war oft, während ihr Bruder im Theater war, einsam zu Hause gesessen, was ihr allerdings nicht anzusehen war. Nun kam sie viel zu uns und half nicht nur beim Einräumen und Eingewöhnen, sondern half auch mir und der Mutter den schwierigen Weg in ein freundlich stilles Zusammenleben hinein zu finden. Sie wußte es der alten Frau zu erklären, wenn ich Ruhe brauchte und allein sein mußte, sie war dann zur Hand und sprang für mich ein, und mir deutete sie manche Bedürfnisse und Wünsche meiner Mutter an, die ich nie erraten und die Mutter mir nie mitgeteilt hätte. So gab es bald eine kleine Heimat und einen Heimatfrieden bei uns, anders und bescheidener als ich mir vormals mein Heim vorgestellt hatte, doch gut und schön genug für einen, der es selber nicht weiter gebracht hatte als ich.

Jetzt lernte meine Mutter auch meine Musik kennen. Sie hieß nicht alles gut und schwieg zu dem meisten, aber sie sah und glaubte, daß es nicht Zeitvertreib und Spielerei, sondern Arbeit und Ernst war, und fand überhaupt zu ihrem Erstaunen unser Musikantenleben, das sie sich stark seiltänzerhaft vorgestellt hatte, kaum viel weniger bürgerlich-fleißig als das, das der selige Papa etwa geführt hatte. Von ihm konnten wir nun auch besser reden und allmählich hörte ich tausend Geschichten von ihm und von ihr, von den Großeltern und von meiner eignen Kinderzeit. Die Vergangenheit und Familie ward mir lieb und interessant, ich fühlte mich nicht mehr außerhalb des Kreises. Dagegen lernte die Mutter mich gewähren zu lassen und Vertrauen zu mir zu haben, auch wenn ich in Arbeitszeiten mich einschloß oder reizbar war. Sie hatte es bei meinem Vater sehr gut gehabt, desto härter war ihre Prüfung in den Schniebelschen Zeiten gewesen; jetzt faßte sie wieder Vertrauen und hörte allmählich auf von ihrem Altwerden und Vereinsamen zu reden.

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Unterm Rad

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„So ist’s gut, so ist‘‚s recht, Mein Lieber. Nur nicht matt werden, sonst kommt man unters Rad.“

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Hans rührte sich nicht. Er saß aufrecht in der Bank, hatte den Kopf ein wenig gesenkt und die Augen halb geschlossen. Der Aufruf hatte ihn aus einem Träumen halb erweckt, doch hörte er die Stimme des Lehrers nur wie aus einer großen Entfernung. Er spürte auch, daß sein Banknachbar ihn heftig anstieß. Es ging ihn nichts an. Er war von anderen Menschen umgeben, andere Hände berührten ihn und andere Stimmen redeten zu ihm, nahe, leise, tiefe Stimmen, welche keine Worte sprachen, sondern nur tief und mild wie Brunnentöne rauschten. Und viele Augen sahen ihn an — fremde, ahnungsvolle, große, glanzvolle Augen. Vielleicht die Augen einer römischen Volksmenge, von welcher er eben noch im Livius gelesen hatte, vielleicht die Augen unbekannter Menschen, von denen er geträumt oder die er irgend einmal auf Bildern gesehen hatte.

„Giebenrath!“ schrie der Professor. „Schlafen Sie denn?“

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Es war noch drei Wochen vor den Ferien, als Hans in einer Nachmittagslektion vom Professor heftig gescholten wurde. Während der Lehrer noch weiter schimpfte, sank Hans in die Bank zurück, begann ängstlich zu zittern und brach in einen lang dauernden Weinkrampf aus, der die ganze Lektion unterbrach. Darauf lag er einen halben Tag im Bett.

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Wenn ein Baum entgipfelt wird, treibt er gern in Wurzelnähe neue Sprossen hervor, und so kehrt oft auch eine Seele, die in der Blüte krank wurde und verdarb, in die frühlinghafte Zeit der Anfänge und ahnungsvollen Kindheit zurück, als könnte sie dort neue Hoffnungen entdecken und den abgebrochenen Lebensfaden aufs neue anknüpfen. Die Wurzelsprossen geilen saftig und eilig auf, aber es ist ein Scheinleben, und es wird nie wieder ein rechter Baum daraus…

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Alle diese ihrer Pflicht beflissenen Lehrer der Jugend, vom Ephorus bis auf den Papa Giebenrath, Professoren und Repetenten, sahen in Hans ein Hindernis ihrer Wünsche, etwas Verstocktes und Träges, das man zwingen und mit Gewalt auf gute Wege zurückbringen müsse. Keiner, außer vielleicht jenem mitleidigen Repetenten, sah hinter dem hilflosen Lächeln des schmalen Knabengesichts eine untergehende Seele leiden und im Ertrinken angstvoll und verzweifelnd um sich blicken. Und keiner dachte etwa daran, daß die Schule und der barbarische Ehrgeiz eines Vaters und einiger Lehrer dieses gebrechliche Wesen soweit gebracht hatten. Warum hatte er in den empfindlichsten und gefährlichsten Knabenjahren täglich bis in die Nacht hinein arbeiten müssen? Warum hatte man ihm seine Kaninchen weggenommen, ihn den Kameraden in der Lateinschule mit Absicht entfremdet, ihm Angeln und Bummeln verboten und ihm das hohle, gemeine Ideal eines schäbigen, aufreibenden Ehrgeizes eingeimpft? Warum hatte man ihm selbst nach dem Examen die wohlverdienten Ferien nicht gegönnt? Nun lag das überhetzte Rößlein am Weg und war nicht mehr zu brauchen.

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Peter Camenzind

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Berge, See, Sturm und Sonne waren meine Freunde, erzählten mir und erzogen mich und waren mir lange Zeit lieber und bekannter als irgend Menschen und Menschenschicksale. Meine Lieblinge aber, die ich dem glänzenden See und den traurigen Föhren und sonnigen Felsen vorzog, waren die Wolken.

Zeigt mir in der weiten Welt den Mann, der die Wolken besser kennt und mehr lieb hat als ich! Oder zeigt mir das Ding in der Welt, das schöner ist als Wolken sind! Sie sind Spiel und Augentrost, sie sind Segen und Gottesgabe, sie sind Zorn und Todesmacht. Sie sind zart, weich und friedlich wie die Seelen von Neugeborenen, sie sind schön, reich und spendend wie gute Engel, sie sind dunkel, unentrinnbar und schonungslos wie die Sendboten des Todes. Sie schweben silbern in dünner Schicht, sie segeln lachend weiß mit goldenem Rand, sie stehen rastend in gelben, roten und bläulichen Farben. Sie schleichen finster und langsam wie Mörder, sie jagen sausend kopfüber wie rasende Ritter, sie hängen traurig und träumend in bleichen Höhen wie schwermütige Einsiedler. Sie haben die Formen von seligen Inseln und die Formen von segnenden Engeln, sie gleichen drohenden Händen, flatternden Segeln, wandernden Kranichen. Sie schweben zwischen Gottes Himmel und der armen Erde als schöne Gleichnisse aller Menschensehnsucht, beiden angehörig - Träume der Erde, in welchen sie ihre befleckte Seele an den reinen Himmel schmiegt. Sie sind das ewige Sinnbild allen Wanderns, allen Suchens, Verlangens und Heimbegehrens. Und so, wie sie zwischen Erde und Himmel zag und sehnend und trotzig hängen, so hängen zag und sehnend und trotzig die Seelen der Menschen zwischen Zeit und Ewigkeit.

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Das Göttliche und Lächerliche alles Menschenwesens ging mir auf: das Rätsel unseres zwiespältigen, unbändigen Herzens, die tiefe Wesenheit der Weltgeschichte und das mächtige Wunder des Geistes, der unsre kurzen Tage verklärt und durch die Kraft des Erkennens unser kleines Dasein in den Kreis des Notwendigen und Ewigen erhebt. Wenn ich den Kopf durch die schmale Fensterluke steckte, sah ich die Sonne auf Dächer und schmale Gassen scheinen, hörte verwundert die kleinen Geräusche der Arbeit und Alltäglichkeit verworren heraufrauschen und fühlte das Einsame und Geheimnisvolle meines von großen Geistern erfüllten Dachwinkels wie ein sonderbar schönes Märchen mich umgeben. Und allmählich, je mehr ich las und je wunderlicher und fremder mich das Hinunterblicken auf Dächer, Gassen und Alltag ergriff, tauchte des öfteren zaghaft und beklemmend das Gefühl in mir auf, auch ich sei vielleicht ein Seher und die vor mir ausgebreitete Welt warte auf mich, daß ich einen Teil ihrer Schätze höbe, den Schleier des Zufälligen und Gemeinen davon löse und das Entdeckte durch Dichterkraft dem Untergang entreiße und verewige.
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Der Steppenwolf

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«Sie sind ungewöhnlich schwach begabt, lieber dummer Kerl, aber so allmählich werden Sie nun doch begriffen haben, was von Ihnen verlangt wird. Sie sollen lachen lernen, das wird von Ihnen verlangt. Sie sollen den Humor des Lebens, des Galgenhumor dieses Lebens erfassen. […]

Natürlich! Für jede dumme und humorlose Veranstaltung sind Sie zu haben, Sie großzügige Herr, für alles, was pathetisch und witzlos ist! Nun, ich aber bin dafür nicht zu haben, ich gebe Ihnen für Ihre ganze romantische Buße kein Groschen. Sie wollen hingerichtet werden. Sie wollen den Kopf abgehackt kriegen. Sie Berserker! Für dieses blöde Ideal würden Sie noch zehn Totschläge begehen. Sie wollen sterben, Sie Feigling, aber nicht leben.

[…] Nehmen Sie endlich Vernunft an! Sie sollen leben, und Sie sollen das Lachen lernen.»

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(Hermine liest in einer Zeitung, dass Harry ein Landesverräter sei. Harry erklärt ihr, wieso:)

Ich habe ein paarmal die Meinung geäussert, jedes Volk und sogar jeder Mensch müsse, statt sich mit verlogenen politischen "Schuldfragen" in Schlummer zu wiegen, bei sich selber nachforschen, wieweit er selbst durch Fehler, Versäumnisse und üble Gewohnheiten mit am Kriege und an allem anderen Weltelend schuldig sei, das sei der einzige Weg, um den nächsten Krieg vielleicht zu vermeiden. Das verzeihen sie mir nicht, denn natürlich sind sie selber vollkommen unschuldig: der Kaiser, die Generäle, die Grossindustriellen, die Politiker, die Zeitungen - niemand hat sich das geringste vorzuwerfen, niemand hat irgendeine Schuld! Man könnte meinen, es stehe alles herrlich in der Welt, nur liegen ein Dutzend Millionen totgeschlagenen Menschen in der Erde. Und sieh, Hermine, wenn solche Schmähartikel mich auch nicht mehr ärgern können, manchmal machen sie mich doch traurig. Zwei Drittel von meinen Landsleuten lesen diese Art von Zeitungen, lesen jeden Morgen und Abend diese Töne, werden jeden Tag bearbeitet, ermahnt, verhetzt, unzufrieden und böse gemacht, und das Ziel und Ende von dem allem ist wieder der Krieg, ist der nächste kommende Krieg, der wohl noch scheusslicher sein wird, als dieser war. Alles das ist klar und einfach, jeder Mensch könnte es begreifen, könnte in einer einzigen Stunde Nachdenkens dasselbe Ergebnis finden. Aber keiner will das, keiner will den nächsten Krieg vermeiden, keiner will sich und seinen Kindern die nächste Millionenschlächterei ersparen, wenn er es nicht billiger haben kann. Eine Stunde nachdenken, eine Weile in sich gehen und sich fragen, wieweit man selber an der Unordnung und Bosheit in der Welt teilhat und mitschuldig ist - sieh, das will niemand! Und so wird es also weitergehen, und der nächste Krieg wird von vielen tausend Menschen Tag für Tag mit Eifer vorbereitet. Es hat mich, seit ich es weiss, gelähmt und zur Verzweiflung gebracht, es gibt für mich kein "Vaterland" und keine Ideale mehr, das ist alles ja bloss Dekoration für die Herren, die das nächste Schlachten vorbereiten. Es hat keinen Sinn, irgend etwas Menschliches zu denken, zu sagen, zu schreiben, es hat keinen Sinn, gute Gedanken in seinem Kopf zu bewegen - auf, zwei, drei Menschen, welche das Tun, kommen Tag für Tag tausend Zeitungen, Zeitschriften, Reden, öffentliche und geheime Sitzungen, die alle das Gegenteil anstreben und erreichen.

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Das Ausgelachtwerden riskiert ein jeder, der sich einem Mädchen nähert; das ist der Einsatz. Also riskiere, und im schlimmsten Fall laß dich eben auslachen.
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Einsamkeit ist Unabhängigkeit, ich hatte sie mir gewünscht und mir erworben in langen Jahren. Sie war kalt, o ja, sie war aber auch still, wunderbar still und groß wie der kalte stille Raum, in dem die Sterne sich drehen.

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Klingsor‘s letzter Sommer

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„Ich werde doch wieder malen“, sagte Klingsor, „schon morgen. Aber nicht mehr diese Häuser und Leute und Bäume. Ich male Krokodile und Seesterne, Drachen und Purpurschlangen, und alles im Werden, alles in der Wandlung, voll Sehnsucht, Mensch zu werden, voll Sehnsucht, Stern zu werden, voll Geburt, voll Verwesung, voll Gott und Tod“

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Das Glasperlenspiel

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Gewiß, zwei Völker und zwei Sprachen werden einander nie sich so verständlich und so intim mitteilen können wie zwei einzelne, die derselben Nation und Sprache angehören. Aber das ist kein Grund, auf Verständigung und Mitteilung zu verzichten. Auch zwischen Volks- und Sprachgenossen stehen Schranken, die eine volle Mitteilung und ein volles gegenseitiges Vertrauen verhindern, Schranken der Bildung, der Erziehung, der Begabung, der Individualität. Man kann behaupten, jeder Mensch auf Erden könne grundsätzlich mit jedem andern sich aussprechen, und man kann behaupten, es gebe überhaupt keine zwei Menschen in der Welt, zwischen denen eine echte, lückenlose, intime Mitteilung und Verständigung möglich sei - eins ist so wahr wie das andre.

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Siddharta
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Einen Stein kann ich lieben, und auch einen Baum oder ein Stück Rinde. Das sind Dinge, und Dinge kann man lieben. Worte aber kann ich nicht lieben. Darum sind Lehren nichts für mich, sie haben keine Härte, keine Weiche, keine Farben, kein Kanten, keinen Geruch, keinen Geschmack, sie haben nichts als Worte. Vielleicht ist es dies, was dich hindert, den Frieden zu finden, vielleicht sind es die vielen Worte. Denn auch Erlösung und Tugend, auch Sansara und Nirwana sind bloße Worte. Es gibt kein Ding, das Nirwana wäre; es gibt nur das Wort Nirwana.

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Liebe kann man erbetteln, erkaufen, geschenkt bekommen, auf der Gasse finden, aber rauben kann man sie nicht.

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Nicht steht mir zu, über eines andern Leben zu urteilen! Für mich allein muß ich urteilen, muß ich wählen, muß ich ablehnen

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Narziss und Goldmund

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Ernst blickte Narziss ihn an: «Ich nehme dich ernst, wenn du Goldmund bist. Du bist aber nicht immer Goldmund. Ich wünsche mir nichts anderes, als dass du ganz und gar Goldmund würdest. Du bist kein Gelehrter, du bist kein Mönch — einen Gelehrten oder einen Mönch kann man aus geringerem Holz machen. Du glaubst, du seiest mir zu wenig gelehrt, zu wenig Logiker, oder zu wenig fromm. O nein, aber du bist mir zu wenig du selbst.

Hatte sich auch Goldmund nach diesem Gespräch betroffen und sogar verletzt zurückgezogen, schon nach wenigen Tagen zeigte er dennoch selbst Verlangen nach seiner Fortsetzung. Diesmal nun gelang es Narziss, ihm ein Bild von den Unterschieden ihrer Naturen zu geben, das er besser annehmen konnte.

Narziss hatte sich warm geredet, er fühlte, dass Goldmund heute seine Worte offener und williger in sich einließe, dass er Macht über ihn habe. Er ließ sich durch den Erfolg verführen, mehr zu sagen, als er beabsichtigt hatte, er ließ sich von seinen eigenen Worten hinreißen.

«Schau», sagte er, «es gibt nur einen einzigen Punkt, in dem ich dir überlegen bin: ich bin wach, während du nur halbwach bist und zuweilen völlig schläfst. Wach nenne ich den, der mit dem Verstand und Bewußtsein sich selbst, seine innersten unvernünftigen Kräfte, Triebe und Schwächen kennt und mit ihnen zu rechnen weiß. Dass du das lernst, das ist der Sinn, den die Begegnung mit mir für dich haben kann. Bei dir, Goldmund, sind Geist und Natur, Bewußtsein und Traumwelt sehr weit auseinander. Du hast deine Kindheit vergessen, aus den Tiefen deiner Seele wirbt sie um dich. Sie wird dich so lange leiden machen, bis du sie erhörst. — Genug davon! Im Wachsein, wie gesagt, bin ich stärker als du, hier bin ich dir überlegen und kann dir darum nützen. In allem ändern, Lieber, bist du ja mir überlegen — vielmehr du wirst es sein, sobald du dich selbst gefunden hast.»

Goldmund hatte staunend zugehört, aber bei dem Wort «Du hast deine Kindheit vergessen» zuckte er auf wie von einem Pfeil getroffen, ohne dass Narziss es beachtete, der nach seiner Art während des Sprechens die Augen oft lange geschlossen hielt oder vor sich hinstarrte, als fände er die Worte so besser. Er sah nicht, wie Goldmunds Gesicht plötzlich zuckte und zu verwelken begann.

«Überlegen — — ich dir!» stammelte Goldmund, nur um etwas zu sagen, er war wie von einer Starre befallen.

«Gewiß», sprach Narziss weiter. «Die Naturen von deiner Art, die mit den starken und zarten Sinnen, die Beseelten, die Träumer, Dichter, Liebenden, sind uns andern, uns Geistmenschen, beinahe immer überlegen. Eure Herkunft ist eine mütterliche. Ihr lebet im Vollen, euch ist die Kraft der Liebe und des Erlebenkönnens gegeben. Wir Geistigen, obwohl wir euch andere häufig zu leiten und zu regieren scheinen, leben nicht im Vollen, wir leben in der Dürre. Euch gehört die Fülle des Lebens, euch der Saft der Früchte, euch der Garten der Liebe, das schöne Land der Kunst. Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Du bist Künstler, ich bin Denker. Du schläfst an der Brust der Mutter, ich wache in der Wüste. Mir scheint die Sonne, dir scheinen Mond und Sterne, deine Träume sind von Mädchen, meine von Knaben ...»

Mit weit offenen Augen hatte Goldmund zugehört, wie Narziss in einer gewissen rednerischen Selbstberauschung sprach. Mehrere seiner Worte hatten ihn getroffen wie Schwerter; bei den letzten Worten wurde er blaß und schloß die Augen, und als Narziss es merkte und erschrocken fragte, sagte der tief Erbleichte mit erloschener Stimme: «Es ist mir einmal passiert, dass ich vor dir zusammenbrach und weinen mußte — du erinnerst dich. Es darf nicht wieder passieren, ich würde es mir nie verzeihen — und auch dir nicht! Geh jetzt schnell fort und lass mich allein, du hast mir furchtbare Worte gesagt.»

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Demian
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Jeder Mensch durchlebt diese Schwierigkeit. Für den Durchschnittlichen ist dies der Punkt im Leben, wo die Forderung des eigenen Lebens am härtesten mit der Umwelt in Streit gerät, wo der Weg nach vorwärts am bittersten erkämpft werden muß. Viele erleben das Sterben und Neugeborenwerden, das unser Schicksal ist, nur dies eine Mal im Leben, beim Morschwerden und langsamen zusammenbrechen der Kindheit, wenn alles Liebgewordene uns verlassen will und wir plötzlich die Einsamkeit und tödliche Kälte des Weltraums um uns fühlen. Und sehr viele bleiben für immer an dieser Klippe hängen und kleben ihr Leben lang schmerzlich am unwiederbringlich Vergangenen, am Traum vom verlorenen Paradies, der der schlimmste und mörderischste aller Träume ist.

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Darum muß jeder von uns für sich selber finden, was erlaubt und was verboten — ihm verboten ist. Man kann niemals etwas Verbotnes tun und kann ein großer Schuft dabei sein. Und ebenso umgekehrt. — Eigentlich ist es bloß eine Frage der Bequemlichkeit! Wer zu bequem ist, um selber zu denken und selber sein Richter zu sein, der fügt sich eben in die Verbote, wie sie nun einmal sind. Er hat es leicht. Andere spüren selber Gebote in sich, ihnen sind Dinge verboten, die jeder Ehrenmann täglich tut, und es sind ihnen andere Dinge erlaubt, die sonst verpönt sind. Jeder muß für sich selber stehen

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Ich war ein Wurf der Natur, ein Wurf ins Ungewisse, vielleicht zu Neuem, vielleicht zu Nichts, und diesen Wurf aus der Urtiefe auswirken zu lassen, seinen Willen in mir zu fühlen und ihn ganz zu meinem zu machen, das allein war mein Beruf. Das allein!
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Man braucht vor niemand Angst zu haben. Wenn man jemanden fürchtet, dann kommt es daher, daß man diesem Jemand Macht über sich eingeräumt hat.
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Wenn wir einen Menschen hassen, so hassen wir in seinem Bilde etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf.

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Wer "nicht in die Welt paßt", der ist immer nahe daran, sich selber zu finden

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Wenn ein Tier oder ein Mensch seine ganze Aufmerksamkeit und seinen ganzen Willen auf eine bestimmte Sache richtet, dann erreicht er sie auch.

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