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VON LE FORT, Gertrud


Stille


Mich ruft zuweilen eine Stille,

die alles Tönen überschweigt

bis ein geheimnisvoller Wille

sich über meine Seele neigt


Der sprengt im Zittern von Sekunden

dies enge Haus – die Welt ist Traum,

in ferne Täler sanken Stunden

und flüsternah ward jeder Baum.


Die Heimatlosen

Wir sind von einem edlen Stamm genommen,

der Schuld vermählt,

wir sind au dunklen Wegen hergekommen,

wund und gequält.

Wir hielten einst ein Vaterland umfangen –

Gott riss uns los –

wir sind durch Feuer und durch blut gegangen,

verfolgt und bloss.

Des Abgrunds engel hat uns überflogen –

wer bannt sein Heer?

wir sind am Rand der Hölle hinggezogen –

uns graust nicht mehr.

Durch jede Schmach sind wir hindurchgebrochen

bis ins Gericht:

Wir hörten Worte, die ihr nie gesprochen –

oh, redet nicht!

Uns winkt hier niemals Heimat mehr wie andern,

uns hält kein Band,

Gott riss uns los, wir müssen wandern, wandern –

wüst liegt das Land,

wüst liegt die Stadt, wüst liegen Hof und Hallen,

die Hand ward leer,

wir sahen eine Welt in Trümmer fallen –

uns trifft nichts mehr.

Ziel eines Hasses oder eines Spottes,

was liegt daran?

Wir sind die Heimatlosen unsres Gottes –

er nimmt uns an.

Die Schuld ist ausgeweint, wir sind entronnen

ins letzte Weh:

Die ew’ge Gnade öffnet ihre Bronnen –

Blut wird zu Schnee.


Passion


I


Deine Stimme spricht zu meiner Seele:


Fürchte dich nicht vor meinen goldenen Kleidern

und erschrick dich nicht vor den Strahlen meiner Kerzen,

denn sie sind alle mir Schleier meiner Liebe,

sie sind alle nur wie zärtliche Hände über meinem Geheimnis.

Ich will sie fortziehen, weinende Seele,

damit Du erkennst, dass ich Dir nicht fremd bin!

Wie sollte eine Mutter nicht ihrem Kind gleichen?

Alle Deine Schmerzen sind in mir!

Ich bin aus Leiden geboren,

ich bin aufgeblüht aus fünf heiligen Wunden.

Ich bin gewachsen am Baum der Schmach,

ich bin erstarkt am bitteren Wein der Tränen.

Ich bin eine weiße Rose in einem Kelch voll Blut:

Ich lebe aus dem Leid,

ich bin eine Kraft aus dem Leid,

ich bin eine Herrlichkeit aus dem Leid –

Komm an meine Seele und sei daheim!