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KEMPOWSKI, Walter



Alles Umsonst

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Unweit von Mitkau, einer kleinen Stadt in Ostpreussen, lag das Gut Georgenhof mit seinen alten Eichen jetzt im Winter wie eine schwarze Hallig in einem weissen Meer. Das Gut war nur klein, die Ländereien waren bis auf einen kleinen Rest verkauft worden, und das Gutshaus war alles andere als ein Schloss» - so beginnt Walter Kempowskis neuer Roman «Alles umsonst». Es muss schön gewesen sein in den Herrenhäusern Ostpreussens, denkt man, während man sich in diesen langsam anlaufenden, in leuchtenden Einzelheiten und hellwachen Beobachtungen sich ausruhenden Roman hineinliest. Man hatte einen Park hinter dem Haus, Hühner, Gänse und einen Pfau, einen Ballsaal und dank dem Tausch der Ländereien in britische Stahlaktien auch etwas Geld. Man jagte, reiste mit dem Auto nach Italien und hatte einen 12-jährigen Sohn, Peter, der die meiste Zeit über einem Mikroskop verbrachte, das er zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Seine Mutter, Katharina von Globig, eine geheimnisvolle und eher lebensfremde Schönheit, stammte aus Berlin-Wilmersdorf und hatte von dort das reichhaltige Tafelsilber und die Lust an zurückgezogenem Lesen mitgebracht.

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Da kam ein einsames Flugzeug geflogen, langsam die Straße entlang, über den Treck dahin. Es wackelte und warf Bomben auf die Wagenkolonne, man konnte die Bomben sehen, wie sie heruntersegelten. Eine davon fiel neben die Kutsche mit dem Tantchen und dem schlafenden Peter. Der Wallach stieg brüllend auf und fiel über die Deichsel, und das, was von dem Tier übrig war, streckte sich. Die Kutsche stürzte um, und Peter lag im Freien.

Das Flugzeug kam noch einmal zurück, der Pilot wollte wohl wissen, ob er getroffen hatte. Machte er Striche auf seinem Schreibblock? Eins, zwei, drei, vier, fünf Pferdewagen vernichtet?

Zur Sicherheit schoss er noch einmal mit dem Maschinengewehr die Kolonne entlang. Dann zog er eine Schleife über das Feld hinweg und holte neue Bomben.

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Das Echolot

Abgesang 45“, Albrecht Knaus


DIENSTAG, 8. MAI/MITTWOCH, 9. MAI 1945

Der Oberleutnant Kurt S. *1918

Zeiden bei Kronstadt


Am 28.4. abends marschiere ich los. Alles ist überwacht. Ich muß querfeldein und durch sämtliche Flüsse waten. Besonders jetzt führen die Flüsse wieder Schneewasser, trotzdem werde ich schon in der ersten Nacht entdeckt, und am nächsten Tag, wo ich vor Schwäche kaum stehen und mich rühren kann, sucht mich ein großes Aufgebot von Kommunisten. Zweimal stehen sie fast neben mir, als ich unter einer kleinen Fichte kauere. Ich kann das, daß sie mich nicht gesehen haben, nur als ein Wunder bezeichnen. Die nächsten Tage schleppe ich mich mit der größten Anstrengung nach Richtung Kronstadt.

Am 3. Mai, früh um 3 Uhr, treffe ich in dem deutschen Ort Zeiden bei Kronstadt vollkommen erschöpft ein. Ich werde gut aufgenommen. Hier sind alle deutschen Männer von 16-45 und alle Frauen von 16-35 Jahren von den Russen nach Rußland deportiert. Hier in diesem Dorf allein ca. 700 Menschen. Die Leute, die noch hier sind (die Alten), sind vollkommen verstört. In einem [deutschen] Hause werde ich nicht bleiben können. Zur Zeit bin ich – heute am 5. Mai 45 – in einem ungarischen Hause. Ich habe mich wieder erholt, und meine Füße, die auch vollkommen hin waren, heilen wieder. Wie es in Deutschland steht, habe ich hier erfahren. Ich bin erschüttert. Was werden meine Lieben machen? Werden wir uns noch einmal wiedersehen? Ich habe in Covaszna schon 3 Tagebücher geschrieben und meine Gedanken über alles festgehalten. Was kommt, kann man nun wohl voraussagen ...

[6. Mai] Rumänisch Ostern: Ich habe mir im Keller [der ungarischen Familie] unter einem großen Holzhaufen ein Versteck gemacht. Am Tage bin ich dort, und nachts bin ich erst oben. Hoffentlich bleibt es so. Im übrigen denke ich ununterbrochen an zu Haus. Während ich hier in Ruhe sitze, werden meine Lieben verschleppt. Die Zukunft sieht furchtbar aus. Was soll werden? Es ist nicht auszudenken. Jedenfalls werden wohl in den nächsten Tagen die Feindseligkeiten eingestellt werden. Die deutsche Armee ist erledigt.

[7. Mai] Gestern abend habe ich seit langer Zeit wieder einmal Radio gehört. Allerdings nur Feindsender. Aber ich muß sagen, ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Alles kapituliert! Die deutschen Sender schweigen, nur Graz brachte Tanzmusik. Es ist furchtbar.

Jede Nacht träume ich die schrecklichsten Sachen. Die Elbe ist die Demarkationslinie zwischen Rußland und Anglo-Amerika. Meine Gedanken sind bei meinen Lieben. Werden sie noch leben? Unter welchen Umständen? Ich kann fast nicht mehr klar denken. Ja, es ist vorbei ... Der Kampf um die persönliche Freiheit. Vielleicht kann ich heute wieder hören. Es wird sich ja auch zeigen, wie die Kriegsgefangenen behandelt werden. Ich glaube nicht, daß sie schnell zurückkommen.

[8. Mai] Breslau ist gestern gefallen, und 40 000 Deutsche gerieten in Gefangenschaft. Die Angst um meine Lieben läßt mich keine Ruhe fi nden. Aber vielleicht sind sie schon vorher evakuiert worden. Aber ich kann ja noch nicht nach Deutschland zurück. Da werde ich ja auch sofort wieder gefangengenommen. Der Krieg ist heute aus. Dönitz hat die Einstellung sämtlicher Kampfhandlungen befohlen. Der Frieden wäre da, aber was für einer? Ich wage nicht, in die Zukunft zu sehen. Ob ich jemals noch mein Kassengeschäft ausüben darf? Das hat mich am meisten in der Zeit, die hinter mir liegt, hochgehalten. Meine schöne Wohnung. Alles hin. Wer weiß, ob ich jemals meine Lieben wiedersehe. Wenn sie tot sein sollten, dann lohnt es sich auch nicht, daß ich noch weiterlebe

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