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BÖLL, Heinrich



Haus ohne Hüter

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Es war schrecklich, wenn Großmutter ihn zum Essen mit in die Stadt nahm. Es geschah nur selten, daß sie überhaupt ausging, aber gerade darum hatte sie in gewissen Restaurants einen Ruf, und ihr Erscheinen rief beim Personal jenes merkwürdige Lächeln hervor, von dem er nie wußte, ob es spöttisch oder wirklich ehrfürchtig war.

Sie liebte schweres und reichliches Essen, fette Suppen, bräunliches, dickflüssiges Zeug, dessen Geruch ihm schon Ekel verursachte, und die Mayonnaisen ließ sie sich auf Eis stellen, um nach dem Genuß sehr heißen Fettes in den von eiskaltem zu kommen.

Große Stücke Braten wurden bestellt, die sie beroch, mit Messer und Gabel auf ihre Zartheit untersuchte und rücksichtslos zurückgehen ließ, wenn das Fleisch nicht ihrem Geschmack entsprach.Fünf verschiedene Salate, die sie durch umständliches Hantieren mit Gewürzen und Flaschen verbesserte, geheimnisvolle silberne Kannen, kupferfarbene Tropfer, Streuer und die lange Unterhaltung mit dem Kellner über Gewürze.

Die Rettung war der Teller mit großen Schnitten ganz weißen Brotes, der wie ein Turm in der Mitte des Tisches stand; und vergeblich wartete er auf das, was er außer Brot noch mochte: Kartoffeln. Gelblichweiß, dampfend, mit Butter und Salz mochte er sie, aber die Großmutter verachtete Kartoffeln.

Sie trank Wein und bestand darauf, er müsse Apfellimonade trinken, ein Getränk, das sie als Kind so geliebt hatte. Sie war unglücklich, wenn er es nicht trank, und begriff nie, daß etwas, was ihr als Kind so wunderbar erschienen war, ihm nicht wunderbar erschien. Er aß nur wenig: Salat, Suppe und Brot, und selber schlingend wie eine Wilde, nahm sie seinen geringen Appetit kopfschüttelnd hin.

Vor dem Essen bekreuzigte sie sich herausfordernd. Die Arme schlenkernd wie Mühlenflügel, schlug sie sich mit der flachen Hand auf Stirn, Brust und Bauch. Nicht nur dadurch, auch durch ihre Kleider erregte sie Aufsehen; schwarze schwere Seide und eine leuchtend rote Bluse, die ihr gut zu dem blühenden Gesicht stand. Die Kellner, der Geschäftsführer und die Büffetmädchen hielten sie für eine russische Emigrantin, doch war sie in einem winzigen Eifeldorf geboren und hatte ihre Kindheit im tiefsten Elend verbracht.

Immer wenn sie gut aß, erzählte sie davon, wie schlecht sie als Kind gegessen hatte; mit lauter Stimme, so daß die Leute an den Nachbartischen aufhorchten, beschrieb sie die fade Süße zerkochter Steckrüben und die Bitternis angebrannter Magermilchsuppen; genau beschrieb sie den Brennesselsalat und das saure dunkle Brot ihrer Kindheit, während sie triumphierend eine Scheibe weißesten Weißbrotes auseinanderbröckelte.

Eine ganze Litanei von Flüchen hatte sie für die Kartoffel bereit: mehliges Erstickungsmittel, preußisches Brot - und eine wild hingemurmelte Folge von Dialektausdrücken, die er nicht verstand. Sie nahm eine neue Scheibe Weißbrot, mit der sie die Soße auftupfte, und ihre leuchtend blauen Augen zeigten dann den Ausdruck einer Wildheit, die ihn erschreckte."

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Und sagte kein einziges Wort

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Als ich die Stufen wieder hinaufging, fiel mir ein, dass ich ihn hätte um gelt fragen können. Ich zögerte einen Augenblick, erstieg dann die letzte Stufe und zwängte mich durch die Leute wieder nach draussen.

Es regnete immer noch, als ich fünf Minuten später an der Benekamstrasse aus dem Bus stieg; ich lief zwischen den hohen Giebeln gotischer Häuser durch, die man abgestützt hat, um sie als sehenswürdigkeiten zu erhalten. In den ausgebrannten Fensterhöhlen sah ich den dunkelgrauen Himmel. Nur eins dieser Häuser ist bewohnt, ich sprang unter das Vordach, klingelte und wartete.

Im sanften braunen Blick des Dienstmädchens lese ich dasselbe Mitleid, das ich einst jenen Typen entgegenbrachte, denen ich nun offenbar zu gleichen beginne. Sie nahm mir Mantel und Mütze ab, schüttelte beides vor der Tür aus und sagte: „Mein Gott, Sie müssen ja ganz durchnässt sein.“ Ich nickte, ging an den Spiegel und fuhr mir mit den Händen übers Haar.

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Billard um halb Zehn

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Warum, warum machten sie das mit Schrella, stellten ihm ein Bein, wenn er zur Pause die Treppe hinunterging; er schlug mit dem Kopf auf die stählerne Treppenkante, der Stahlbügel der Brille bohrte sich ins Ohrläppchen, und viel zu spät kam Wackes mit dem Erste-Hilfe-Kasten aus dem Lehrerzimmer. Nettlinger, mithöhnischem Gesicht, hielt ihm den Leukoplaststreifen stramm, damit er ein Stück abschneiden könne; sie überfielen Schrella auf dem Heimweg, zerrten ihn in Hauseingänge, verprügelten ihn zwischen Abfalleimern und abgestellten Kinderwagen, stießen ihn dunkle Kellertreppen hinunter, und

dort unten lag er lange, mit gebrochenem Arm, im Kohlengeruch, Geruch keimender Kartoffeln, im Anblick staubiger Einmachgläser; bis ein Junge, der ausgeschickt war, Äpfel zu holen, ihn fand und die Hausbewohner alarmierte

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Ekel breitete sich aus, sobald sie erschien, und es gab Abergläubische unter den Gästen, die ihr Gesicht bedeckten, wenn sie auftrat. Zimmermädchen kündigten ihretwegen, Kellner verweigerten die Bedienung, aber er, er musste, sobald sie ihn erwischte, stundenlang mit ihr Canasta spielen; ihre Finger wie Hühnerkrallen, einzig menschlich an ihr war die Zigarette in ihrem Mund. ›Liebe, mein Junge, nie gewusst, was das ist; nicht einer, der mich nicht merken lässt, daß er sich vor mir ekelt; meine Mutter verfluchte mich siebenmal am Tage, schrie mir ihren Ekel ins Gesicht; hübsch war meine Mutter und jung, jung und hübsch war mein Vater, waren meine Geschwister; sie hätten mich vergiftet, wenn sie den Mut nur aufgebracht hätten; sie nannten mich: so was dürfte nicht geboren werden

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und wenn sie auf mich zurannten, roch ich schon von weitem, was sie gegessen hatten: Kartoffeln mit Sauce, Braten, oder Kraut mit Speck, und während sie mich schlugen, dachte ich: Wozu ist Christus gestorben, was nützt mir denn sein Tod, was nützt es mir, wenn sie jeden Morgen beten, jeden Sonntag kommunizieren und die großen Kruzifixe in ihren Küchen hängen, über den Tischen, von denen sie Kartoffeln mit Sauce, Braten oder Kraut mit Speck essen? Nichts. Was soll das alles, wenn sie mir jeden Tag auflauern und mich verprügeln? Da hatten sie also seit fünfhundert oder sechshundert Jahren - und waren sogar stolz auf das Alter ihrer Kirche -, hatten vielleicht seit tausend Jahren ihre Vorfahren auf dem Friedhof begraben, hatten seit tausend Jahren gebetet und unterm Kruzifix Kartoffeln mit Sauce und Speck mit Kraut gegessen. Wozu? Und wissen Sie, was sie schrien, während sie mich verprügelten? Lamm Gottes. Das war mein Spitzname.«

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Wir werden reisen, uns die Welt anschauen, du wirst mir Kinder schenken, fünf, sechs, sieben; die Kinder werden mir Enkel schenken, fünfmal, sechsmal, siebenmal sieben; du wirst nie merken, dass ich arbeite; ich werde dir den Männerschweiß ersparen, Muskelernst und Uniformernst; alles geht mir leicht von der Hand, ich hab's gelernt, ein bisschen studiert, hab den Schweiß im voraus bezahlt; ich bin kein Künstler; mach dir keine Illusionen; ich werde dir weder falsche noch echte Dämonie bieten können, das, wovon dir deine Freundinnen Gruselmärchen erzählen, werden wir nicht im Schlafzimmer tun, sondern im Freien: du sollst den Himmel über dir sehen. Blätter oder Gräser sollen dir ins Gesicht fallen, du sollst den Geruch eines Herbstabends schmecken und nicht das Gefühl haben, an einer widerwärtigen Turnübung teilzunehmen, zu der du verpflichtet bist; du sollst herbstliches Gras riechen, wir werden im Sand liegen, unten am Flußufer, zwischen den Weidenbüschen, gleich oberhalb der Spur, die das Hochwasser hinterließ; Schilfstengel, Korken, Schuhcremedosen, eine Rosenkranzperle, die einer Schifferfrau über Bord fiel, und in einer Limonadenflasche eine Post; in der Luft der bittere Rauch der Schiffsschornsteine; rasselnde Ankerketten; wir werden keinen blutigen Ernst draus machen, obwohl's natürlich ernst und blutig ist.‹

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Eben klingelte die Elf, mit der er gekommen war, zur Abfahrt; er zögerte zu lange, sah sich für zwölf Minuten in Blessenfeld gefangen; er rauchte, trank langsam den Rest der Limonade und suchte hinter dem steinern rosigen Gesicht nach dem Namen des Mädchens, das sie einmal gewesen war; blond, raste mit wehendem Haar durch den Park, schrie, sang und lockte in dunklen Fluren, als längst schon die Engelgleichheit dahingegangen war; erzwang heisere Liebesversprechen aus erregten Knabenkehlen, während der Bruder, blond wie sie, engelgleich wie sie, die Knaben der Straße vergebens zu edler Tat aufrief; Tischlerlehrling, Hundertmeterläufer, im Morgengrauen um einer Torheit willen geköpft. »Bitte«, sagte Schrella, »doch noch eine Limonade“

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Ansichten eines Clowns

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Seitdem Marie mich verlassen hat, um Züpfner, diesen Katholiken, zu heiraten, ist der Ablauf noch mechanischer geworden, ohne an Lässigkeit zu verlieren. Für die Entfernung vom Bahnhof zum Hotel, vom Hotel zum Bahnhof gibt es ein Maß: den Taxameter. Zwei Mark, drei Mark, vier Mark fünfzig vom Bahnhof entfernt. Seitdem Marie weg ist, bin ich manchmal aus dem Rhythmus geraten, habe Hotel und Bahnhof miteinander verwechselt, nervös an der Portierloge nach meiner Fahrkarte gesucht oder den Beamten an der Sperre nach meiner Zimmernummer gefragt, irgendetwas, das Schicksal heißen mag, ließ mir wohl meinen Beruf und meine Situation in Erinnerung bringen. Ich bin ein Clown, offizielle Berufsbezeichnung: Komiker, keiner Kirche steuerpflichtig, siebenundzwanzig Jahre alt, und eine meiner Nummern heißt: Ankunft und Abfahrt, eine (fast zu) lange Pantomime, bei der der Zuschauer bis zuletzt Ankunft und Abfahrt verwechselt; da ich diese Nummer meistens im Zug noch einmal durchgehe (sie besteht aus mehr als sechshundert Abläufen, deren Choreographie ich natürlich im Kopf haben muß), liegt es nahe, daß ich hin und wieder meiner eigenen Phantasie erliege: in ein Hotel stürze, nach der Abfahrtstafel ausschaue, diese auch entdecke, eine Treppe hinauf- oder hinunterrenne, um meinen Zug nicht zu versäumen, während ich doch nur auf mein Zimmer zu gehen und mich auf die Vorstellung vorzubereiten brauche.

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Damals hieß es, die jungen Mädchen sollten sich freiwillig zur Flak melden, und Henriette meldete sich, im Februar 1945. Es ging alles so rasch und reibungslos, daß ichs gar nicht begriff. Ich kam aus der Schule, überquerte die Kölner Straße und sah Henriette in der Straßenbahn sitzen, die gerade in Richtung Bonn abfuhr. Sie winkte mir zu und lachte, und ich lachte auch. Sie hatte einen kleinen Rucksack auf dem Rücken, einen hübschen dunkelblauen Hut auf und den dicken blauen Wintermantel mit dem Pelzkragen an. Ich hatte sie noch nie mit Hut gesehen, sie hatte sich immer geweigert, einen aufzusetzen. Der Hut veränderte sie sehr. Sie sah wie eine junge Frau aus. Ich dachte, sie mache einen Ausflug, obwohl es eine merkwürdige Zeit für Ausflüge war. Aber den Schulen war damals alles zuzutrauen. Sie versuchten sogar, uns im Luftschutzkeller Dreisatz beizubringen, obwohl wir die Artillerie schon hörten.
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Ich wurde dazu verurteilt, unter Herberts Aufsicht im Garten einen Panzergraben auszuwerfen, und noch am Nachmittag wühlte ich, der Schnierschen Tradition folgend, die deutsche Erde auf, wenn auch — was der Schnierschen Tradition widersprach — eigenhändig. Ich grub den Graben quer durch Großvaters Lieblingsrosenbeet, genau auf die Kopie des Apoll von Belvedere zu, und ich freute mich schon auf den Augenblick, wo die Marmorstatue meinem Wühleifer erliegen würde; ich freute mich zu früh; sie wurde von einem kleinen sommersprossigen Jungen erlegt, der Georg hieß. Er sprengte sich selbst und den Apoll in die Luft durch eine Panzerfaust, die er irrtümlich zur Explosion brachte. Herbert Kalicks Kommentar zu diesem Unfall war lakonisch. »Zum Glück war Georg ja ein Waisenkind.«

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Marie hatte längst ihren Monolog über die Ordnungsprinzipien abgebrochen, sie rauchte auch nicht mehr, und als ich vom Fenster zurücktrat, kam sie mir nach, faßte mich an der Schulter und küßte mich auf die Augen. »Du bist so lieb«, sagte sie »so lieb und so müde«, aber als ich sie umarmen wollte, sagte sie leise: »Bitte, bitte, nicht«, und es war falsch von mir, daß ich sie wirklich losließ. Ich warf mich in den Kleidern aufs Bett, schlief sofort ein, und als ich

am Morgen wach wurde, war ich nicht erstaunt darüber, daß Marie gegangen war. Ich fand den Zettel auf dem Tisch: »Ich muß den Weg gehen, den ich gehen muß.« Sie war fast fünfundzwanzig, und es hätte ihr etwas Besseres einfallen müssen. Ich nahm es ihr nicht übel, es kam mir nur ein bißchen wenig vor. Ich setzte mich sofort hin und schrieb ihr einen langen Brief, nach dem Frühstück noch einen, ich schrieb ihr jeden Tag und schickte die Briefe alle an Fredebeuls Adresse nach Bonn, aber ich bekam nie Antwort

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Aber Vater war — das einzige Mal, soweit ich mich erinnern konnte — energisch geworden und hatte darauf bestanden, morgens seine beiden frischen Taschentücher zu bekommen. Ich hatte noch nie ein Tröpfchen oder Stäubchen, irgend etwas, was Naseputzen notwendig gemacht hätte, an ihm gesehen. Jetzt stand er am Fenster und trocknete nicht nur Tränen, wischte sogar so etwas Ordinäres wie Schweiß von der Oberlippe. Ich ging raus in die Küche, weil er immer noch weinte, ich hörte ihn sogar ein bißchen schluchzen. Es gibt nur wenige Menschen, die man gern dabei hat, wenn man weint, und ich dachte mir, der eigene Sohn, den man kaum kennt, wäre die am wenigsten angemessene Gesellschaft. Ich selbst kannte nur einen Menschen, in dessen Gegenwart ich weinen konnte, Marie, und ich wußte nicht, ob Vaters Geliebte von der Art war, daß er in ihrer Gegenwart weinen konnte. Ich hatte sie nur einmal gesehen, sie lieb und hübsch und auf eine angenehme Weise dumm gefunden, hatte aber viel von ihr gehört.

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Die verlorene Ehre der Katharina Blum

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Ziemlich merkwürdig verhielt sich die ZEITUNG, nachdem die beiden Morde an ihren Journalisten bekannt wurden. Irrsinnige Aufregung! Schlagzeilen. Titelblätter. Sonderausgaben. Todesanzeigen überdimensionalen Ausmaßes. Als ob — wenn schon auf der Welt geschossen wird — der Mord an einem Journalisten etwas Besonderes wäre, wichtiger etwa als der Mord an einem Bankdirektor, -angestellten oder -räuber. Diese Tatsache der Über-Aufmerksamkeit der Presse muss hier vermerkt werden, weil nicht nur die ZEITUNG, auch andere Zeitungen tatsächlich den Mord an einem Journalisten als etwas besonders Schlimmes, Schreckliches, fast Feierliches, man könnte fast sagen wie einen Ritualmord behandelten. Es wurde sogar von "Opfer seines Berufes" gesprochen, und natürlich hielt die ZEITUNG selbst hartnäckig an der Version fest, auch Schönner wäre ein Opfer der Blum, und wenn man auch zugeben muss, dass Tötges wahrscheinlich nicht erschossen worden wäre, wäre er nicht Journalist geworden (sondern etwa Schuhmacher oder Bäcker), so hätte man doch herauszufinden versuchen sollen, ob man nicht besser von beruflich bedingtem Tod hätte sprechen müssen, denn es wird ja noch geklärt werden, warum eine so kluge und fast kühle Person wie die Blum den Mord nicht nur plante, auch ausführte und im entscheidenden, von ihr herbeigeführten Augenblick nicht nur zur Pistole griff, sondern diese auch in Tätigkeit setzte.

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