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KYBER, Manfred



Die drei Lichter der kleinen Veronika

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Er zeigte Veronika alle die vielen Zimmer und Gänge, und sie sah sie gleichsam zum ersten Male, denn bisher war sie nur darin gewesen, aber sie hatte sie nicht erlebt. Nun aber bemerkte sie, daß sie alle verschieden waren: In dem einen war es warm und hell, selbst dann noch hell, wenn die Fensterläden geschlossen waren, denn es war hier eine innerliche Helligkeit – in dem anderen Zimmer aber fröstelte es einen sogar im heißen Sommer, und es war dunkel darin, auch wenn die Sonne flutend hereinschien. Jedenfalls fühlte man das so deutlich, daß gar kein Zweifel darüber bestehen konnte. Mit dem Hausrat und mit den Bildern war es ganz ähnlich. Auch sie waren hell oder dunkel, warm oder kalt, und es gab Sachen darunter, die man lieber gar nicht anrühren mochte. In der Nähe solcher Dinge waren auch immer besonders viele Stufen. Wie war das alles sonderbar!

Am seltsamsten aber schien es der kleinen Veronika, daß sie nicht mehr so frei war wie damals im Garten der Geister, wo man so viele Stimmen hörte und so viele Bilder sah, aber doch immer ganz aus sich selbst heraus wählen konnte, wohin man gerade Lust hatte zu gehen. Im Haus der Schatten aber wurde man stets ein wenig geschoben, nicht körperlich, aber doch immerhin sehr merklich. Gewiß, man brauchte nicht allemal nachzugeben, aber man tut es allzu leicht, denn das ist ja naheliegend, wenn es einen plötzlich an die Schulter tippt und irgendwohin schiebt. Manchesmal bemerkte Veronika auch, wie Magister Mützchen sie ablenkte, wenn es sie in dieser Weise fortziehen wollte. Sehen konnte man niemand, der das tat, man konnte es nur fühlen, wie man Strömungen fühlt in einem Flusse, in dem man schwimmt. Es war ganz lustig, so angetippt und leise hin und her geschoben zu werden, es war voller Leben und gleichsam eine Einladung nach der anderen. Man wollte eigentlich nicht selbst – es wollte in einem –, und überall gab es ja auch etwas zu sehen.

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Schau ins Leben und ins Licht, kleine Veronika, ehe die himmlischen Augen eingeschlafen sind. Dann hast du etwas, woran du dich erinnern kannst, wenn die Dämmerung gekommen ist und es dunkel um dich wird. Denn es wird dunkel um jeden, damit er schmerzvoll bewußt wird und sich selber findet in der Dunkelheit – sich selbst und Gott. Aber das ist ein langer Weg, kleine Veronika. Es ist schwer, daß wir alle ihn gehen müssen.

Die Kinderschaufel und der kleine Blecheimer, auf dem ein froher roter Hase gemalt war, lagen untätig vor einem umgegrabenen Beet, in das die kleine Veronika sehr sonderbare Dinge pflanzen wollte. Aber nun saß sie still und staunte mit weiten Augen in den Garten. Noch waren ja ihre Augen die himmlischen Augen, und der ganz gewöhnliche Garten war ein Garten der Geister. Was gab es hier alles zu schauen und zu hören!

»Möchtest du dir nicht mein Landhaus betrachten, Veronika?« fragte ein großer Käfer, der vor ihr saß, und machte eine empfehlende Bewegung mit dem Fühler.

»Siehe, wie weiß unsere Blüten sind«, sagten die Liliengeister, »so rein und weiß ist das himmlische Hemd, das du einmal trugst.«

»Hast du bemerkt, wie geschickt sich schon meine Kinder zusammenrollen können?« fragte die Igelmutter, die mit ihrer Familie in einem behaglichen Loch der moosbewachsenen Mauer saß.

»Schau, wie rot unsere Kelche sind«, sagten die Rosenseelen, »so rein und so rot ist der Kelch des Grales, nach dem du einmal die Arme ausgestreckt hast. Du denkst jetzt nicht mehr daran, aber du wirst wieder daran denken, wenn die Dämmerung über dich gekommen ist, kleine Veronika.«

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