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HAUSHOFER, Marlen



Die Wand

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Jener zehnte Mai war ein richtiger Wintertag. Der Schnee, der anfangs gleich wieder geschmolzen war, blieb liegen, und es schneite immer noch. Es fing damit an, daß ich erwachte und mich völlig schutzlos und preisgegeben fühlte. Ich war körperlich nicht mehr müde und dem Ansturm meiner Gedanken ausgeliefert. Zehn Tage waren vergangen, und nichts hatte sich an meiner Lage verändert. Zehn Tage lang hatte ich mich mit Arbeit betäubt, aber die Wand war noch immer da, und keiner war gekommen, um mich zu holen. Es blieb mir nichts übrig, als mich endlich der Wirklichkeit zu stellen.

Ich gab die Hoffnung damals noch nicht auf, noch lange nicht. Selbst als ich mir endlich sagen mußte, daß ich nicht länger auf Hilfe warten durfte, blieb diese irrsinnige Hoffnung in mir; eine Hoffnung gegen jede Vernunft und gegen meine eigene Überzeugung. Schon damals, am zehnten Mai, schien es mir sicher, daß die Katastrophe von riesigem Ausmaß war. Alles sprach dafür, das Ausbleiben der Retter, das Schweigen der Menschenstimmen im Radio und das wenige, das ich selber durch die Wand gesehen hatte. Noch viel später, als fast jede Hoffnung in mir erloschen war, konnte ich noch immer nicht glauben, daß auch meine Kinder tot wären, nicht auf diese Weise tot wie der Alte am Brunnen und die Frau auf der Hausbank. Wenn ich heute an meine Kinder denke, sehe ich sie immer als Fünfjährige, und es ist mir, als wären sie schon damals aus meinem Leben gegangen. Wahrscheinlich fangen alle Kinder in diesem Alter an, aus dem Leben ihrer Eltern zu gehen; sie verwandeln sich ganz langsam in fremde Kostgänger. All dies vollzieht sich aber so unmerklich, daß man es fast nicht spürt. Es gab zwar Momente, in denen mir diese ungeheuerliche Möglichkeit dämmerte, aber wie jede andere Mutter verdrängte ich diesen Eindruck sehr rasch. Ich mußte ja leben, und welche Mutter könnte leben, wenn sie diesen Vorgang zur Kenntnis nähme? Als ich am zehnten Mai erwachte, dachte ich an meine Kinder als an kleine Mädchen, die Hand in Hand über den Spielplatz trippelten. Die beiden eher unangenehmen, lieblosen und streitsüchtigen Halberwachsenen, die ich in der Stadt zurückgelassen hatte, waren plötzlich ganz unwirklich geworden. Ich trauerte nie um sie, immer nur um die Kinder, die sie vor vielen Jahren gewesen waren. Wahrscheinlich klingt das sehr grausam, ich wüßte aber nicht, wem ich heute noch etwas vorlügen sollte. Ich kann mir erlauben, die Wahrheit zu schreiben; alle, denen zuliebe ich mein Leben lang gelogen habe, sind tot. Im Bett fröstelnd, überlegte ich, was zu tun wäre. Ich konnte mich umbringen oder versuchen, mich unter der Wand durchzugraben, was wahrscheinlich nur eine mühevollere Art des Selbstmords gewesen wäre. Und natürlich konnte ich hier bleiben und versuchen, am Leben zu bleiben.

Um ernstlich an Selbstmord zu denken, war ich nicht mehr jung genug. Hauptsächlich hielt mich auch der Gedanke an Luchs und Bella davon ab und außerdem eine gewisse Neugierde. Die Wand war ein Rätsel, und ich hätte es nie fertiggebracht, mich angesichts eines ungelösten Rätsels davonzumachen. Dank Hugos Fürsorge besaß ich einige Vorräte, die den Sommer über reichen mochten, ein Heim, Holz auf Lebenszeit und eine Kuh, die auch ein ungelöstes Rätsel war und vielleicht ein Kalb erwartete. Zumindest das Erscheinen oder Nichterscheinen dieses Kalbes wollte ich abwarten, ehe ich weitere Beschlüsse faßte. Über die Wand zerbrach ich mir nicht allzusehr den Kopf. Ich nahm an, sie wäre eine neue Waffe, die geheimzuhalten einer der Großmächte gelungen war; eine ideale Waffe, sie hinterließ die Erde unversehrt und tötete nur Menschen und Tiere. Noch besser freilich wäre es gewesen, hätte man die Tiere verschonen können, aber das war wohl nicht möglich gewesen. Solange es Menschen gab, hatten sie bei ihren gegenseitigen Schlächtereien nicht auf die Tiere Rücksicht genommen. Wenn das Gift, ich stellte mir jedenfalls eine Art Gift vor, seine Wirkung verloren hatte, konnte man das Land in Besitz nehmen. Nach dem friedlichen Aussehen der Opfer zu schließen, hatten sie nicht gelitten; das ganze schien mir die humanste Teufelei, die je ein Menschenhirn ersonnen hatte.

Ich konnte nicht ahnen, wie lange das Land unfruchtbar bleiben würde, ich nahm an, sobald es betretbar war, würde die Wand verschwinden, und die Sieger würden einziehen. Heute frage ich mich manchmal, ob das Experiment, wenn es überhaupt etwas Derartiges war, nicht ein wenig zu gut gelungen ist. Die Sieger lassen so lange auf sich warten. Vielleicht gibt es gar keine Sieger. Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken. Ein Wissenschaftler, ein Spezialist für Vernichtungswaffen, hätte wahrscheinlich mehr herausgefunden als ich, aber es hätte ihm wenig genützt. Mit all seinem Wissen könnte er nichts anderes tun als ich, warten und versuchen, am Leben zu bleiben. Nachdem ich mir alles so gut zurechtgelegt hatte, wie es einem Menschen mit meiner Erfahrung und meiner Intelligenz möglich war, warf ich die Decke von mir und ging daran, einzuheizen, denn es war sehr kalt an jenem Morgen. Luchs kroch aus dem Ofenloch und zeigte mir seine tröstliche Sympathie, und dann war es an der Zeit, in den Stall zu gehen und Bella zu versorgen. Nach dem Frühstück fing ich an, alles, was ich an Vorräten besaß, im Schlafzimmer unterzubringen und eine Liste anzulegen. Die Liste liegt vor mir, ich mag sie nicht abschreiben, im Lauf dieses Berichts wird ja fast jedes Ding, das ich besaß, erwähnt werden. Die Lebensmittel räumte ich aus der kleinen Kammer ins Schlafzimmer, weil es dort auch im Sommer kühl ist. Das Haus lehnt sich an den Berg, und seine Rückseite liegt immer im Schatten. Kleidungsstücke waren genügend vorhanden, ebenso Petroleum für die Lampe und Spiritus für den kleinen Kocher. Es gab auch ein Bündel Kerzen und zwei Taschenlampen mit Ersatzbatterien. Die Hausapotheke war reichlich versorgt; außer Verbandzeug und schmerzstillenden Tabletten ist noch alles vorhanden. In diese Apotheke hatte Hugo seine ganze Liebe gelegt; ich glaube, die meisten Medikamente sind längst unbrauchbar geworden.

Als lebenswichtig erwies sich ein großer Sack Erdäpfel, eine Menge Zündhölzer und Munition. Und natürlich die verschiedenen Werkzeuge, eine Büchsflinte und ein Mannlichergewehr, das Fernglas, Sense, Rechen und Heugabel, die dazu gedient hatten, die Waldwiese für die Wildfütterung zu mähen, und ein Säckchen Bohnen. Ohne diese Dinge, die ich Hugos Ängsten und dem Zufall verdanke, wäre ich nicht mehr am Leben. Ich stellte fest, daß ich von den Lebensmitteln schon zuviel verbraucht hatte. Vor allem war es eine Verschwendung, auch Luchs mit ihnen zu füttern; es tat ihm auch nicht gut, er brauchte dringend frisches Fleisch. Das Mehl mochte noch drei Monate reichen, bei größter Sparsamkeit, und ich konnte mich nicht darauf verlassen, bis dahin gefunden zu werden. Ich durfte mich überhaupt nicht darauf verlassen, jemals gefunden zu werden.

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