MASALA, Carlo



Wenn Russland gewinnt

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Dass Russland in der Ukraine gewinnt, liegt im Bereich des Möglichen. Vielleicht hat es sogar schon gewonnen, wenn dieses Buch erscheint, wer könnte das mit Sicherheit voraussagen? Wobei ein russischer Sieg für mich schon dann gegeben ist, wenn Russland das Territorium behalten kann, das es aktuell besetzt hält. Nun mag manchem die Ukraine egal sein. Und nicht wenige mögen denken: Ist doch gut, wenn der Krieg endlich vorbei ist. Dann kehrt bei uns wieder Normalität ein. Gebt Russland doch, was es will, dann ist Ruhe. Aber ist dem so? Geht es wirklich nur um die Ukraine? Was, wenn das nur der Anfang war? Wenn in Wahrheit die europäische Sicherheit und unsere gesamte liberale Weltordnung auf dem Spiel stehen und wir erneut die Augen davor verschließen? Wie das ausgehen könnte, darum geht es in dem Szenario, das ich in diesem Buch durchspiele.

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Im Baltikum, einige Jahre in der Zukunft

Narwa, Estland, am 27. März 2028: In den frühen Morgenstunden werden die Menschen durch Explosionen geweckt. Zwei russische Brigaden dringen von Norden und Osten in die Stadt ein. Die maskierten Angreifer haben die estnischen Grenztruppen schnell überwältigt. Auch in der Stadt selbst stoßen die russischen Soldaten auf nur geringen Widerstand, den sie rasch brechen. Unterstützt werden sie von Teilen der lokalen Zivilbevölkerung, an die bereits in den Wochen und Monaten zuvor Handfeuerwaffen und Maschinengewehre ausgegeben worden sind. Binnen weniger Stunden ist die 57000 Einwohner zählende Stadt im Grenzgebiet zu Russland erobert. Als die Sonne aufgeht, weht bereits die Flagge Russlands vom Turm des historischen Rathauses. Nahezu in Echtzeit verbreiten sich kleine Videoschnipsel von der Flaggenhissung auf diversen Social-Media-Plattformen, allesamt versehen mit dem Hashtag #TagDerRückkehr. Der russische Einmarsch geschieht unerwartet. Zwar hat die russischsprachige Bevölkerung in Narwa bereits seit Wochen demonstriert, weil ihnen angeblich die Möglichkeit verwehrt wird, ihre Sprache in der öffentlichen Verwaltung zu benutzen sowie ihre Kultur zu leben. Angeheizt von Desinformation in den sozialen Medien, befürchten sie darüber hinaus, dass die Regierung in Tallinn sie zu Bürgern zweiter Klasse machen und ihnen das Wahlrecht entziehen könnte. Angeblich, so wird auf Telegram und Facebook verbreitet, weil sie aufgrund ihrer Nähe und Verbundenheit zu Russland als Sicherheitsrisiko gelten. Immer wieder ist es auch zu kleineren Scharmützeln 12

zwischen «Russen» und der estnischen Polizei gekommen. Aber das hat es auch früher schon gegeben, und die estnische Regierung ist davon ausgegangen, dass sie die Lage in den Griff bekommen wird.

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