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EICH, Günter



Inventur

Dies ist meine Mütze,

dies ist mein Mantel,

hier mein Rasierzeug

im Beutel aus Leinen.


Konservenbüchse:

Mein Teller, mein Becher,

ich hab in das Weißblech

den Namen geritzt.


Geritzt hier mit diesem

kostbaren Nagel,

den vor begehrlichen

Augen ich berge.


Im Brotbeutel sind

ein Paar wollene Socken

und einiges, was ich

niemand verrate,


so dient es als Kissen

nachts meinem Kopf.

Die Pappe hier liegt

zwischen mir und der Erde.


Die Bleistiftmine

lieb ich am meisten:

Tags schreibt sie mir Verse,

die nachts ich erdacht.


Dies ist mein Notizbuch,

dies meine Zeltbahn,

dies ist mein Handtuch,

dies ist mein Zwirn.


Latrine


Über stinkendem Graben,

Papier voll Blut und Urin,

umschwirrt von funkelnden Fliegen,

hocke ich in den Knien,


den Blick auf bewaldete Ufer,

Gärten, gestrandetes Boot.

In den Schlamm der Verwesung

klatscht der versteinte Kot.


Irr mir im Ohre schallen

Verse von Hölderlin.

In schneeiger Reinheit spiegeln

Wolken sich im Urin.


Geh aber nun und grüße

die schöne Garonne

Unter den schwankenden Füßen

schwimmen die Wolken davon.


Ende eines Sommers


Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!


Wie gut, dass sie am Sterben teilhaben!

Die Pfirsiche sind geerntet, die Pflaumen färben sich,

während unter dem Brückenbogen die Zeit rauscht.


Dem Vogelzug vertraue ich meine Verzweiflung an.

Er misst seinen Teil von Ewigkeit gelassen ab.

Seine Strecken

werden sichtbar im Blattwerk als dunkler Zwang,

die Bewegung der Flügel färbt die Früchte.


Es heißt Geduld haben.

Bald wird die Vogelschrift entsiegelt,

unter der Zunge ist der Pfennig zu schmecken.


Wacht auf

Wacht auf, - denn eure Träume sind schlecht!

Bleibt wach, - weil das Entsetzliche näher kommt.


Auch zu dir kommt es, der weitentfernt wohnt

von den Stätten, wo Blut vergossen wird,

auch zu dir und deinem Nachmittagsschlaf,

worin du ungern gestört wirst.

Wenn es heute nicht kommt, kommt es morgen,

aber sei gewiß.


"Oh, angenehmer Schlaf

auf dem Kissen mit roten Blumen,

einem Weihnachtsgeschenk von Anita, woran sie drei Wochen gestickt hat,


oh, angenehmer Schlaf,

wenn der Braten fett war und das Gemüse zart.

Man denkt im Einschlummern an die Wochenschau von gestern abend:

Osterlämmer, erwachende Natur, Eröffnung der Spielbank in Baden-Baden,

Cambridge siegte gegen Oxford mit zweieinhalb Längen, -

das genügt, das Gehirn zu beschäftigen.


Oh, diese weichen Kissen, Daunen aus erster Wahl!

Auf ihm vergißt man das Ärgerliche der Welt, jene Nachricht zum Beispiel:

Die wegen Abtreibung Angeklagte sagte zu ihrer Verteidigung:

Die Frau, Mutter von sieben Kindern, kam zu mir mit einem Säugling,

für den sie keine Windeln hatte und der

in Zeitungspapier gewickelt war.

Nun, das sind Angelegenheiten des Gerichtes, nicht unsre.

Man kann dagegen nichts tun, wenn einer etwas härter liegt als der andre.

Und was kommen mag, unsere Enkel mögen es ausfechten."


Ach, du schläfst schon? Wache gut auf, mein Freund!

Schon läuft der Strom in den Umzäunungen, und die Posten sind aufgestellt.


Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!

Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für

euch erwerben zu müssen.

Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit

der Leere eurer Herzen gerechnet wird!

Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet!

Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!