WILDGANS, Anton



Musik der Kindheit


Unter den Weißgärbern

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Es war an einem Nachmittag – er steht vor mir, als wenn er sich erst gestern begeben hätte! – da trat der Vater durch die seit langem versperrt gewesene Tapetentür, nahm mich an der Hand und sagte, ich solle der Mutter für alles danken und die Hand küssen. In der ganzen glücklichen Ahnungslosigkeit meiner vier Jahre folgte ich ihm in das Kabinett. Da lag die Mutter in ihrem großen, weißen Bette, aber es schien nicht so weiß wie sonst, denn der einfenstrige Raum war durch die herabgelassenen Jalousien in mattgrüne Dämmerung getaucht. Als ich an das Bett getreten war, wandte sich die Mutter mir zu, sah mich lange an und reichte mir endlich eine ganz klein gewordene, blasse Hand her, die ich küßte. Dann aber kehrte sie sich mit einer schnellen Bewegung von mir ab, vergrub ihr Antlitz in das Kissen, und ich gewahrte von ihr nichts mehr als einen schmalschultrigen, weißen, gekrümmten Rücken, über den ein dünner, dunkler Zopf etwas wirr und schief herabhing. Wie ich aus dem Kabinett wieder herausgekommen, dessen erinnere ich mich nicht mehr, aber eines weiß ich: daß der Vater eines anderen Tages im Hofzimmer lange schluchzend auf und ab ging und meiner, der ich dort spielte und kein lautes Wort wagte, nicht achtete. Und dann kam wieder ein Nachmittag, da ich vom Fenster aus merkwürdige Wagen vor dem Hause stehen sah, schwarzbespannte Wagen, auf deren Kutschböcken schwarze Männer mit schwarzen Dreispitzen saßen. Einer von ihnen wandte sich herauf und schien gerade auf mich zu blicken. Er hatte ein rosiges, gar nicht schreckhaftes Gesicht und ein schwarzes Band unter dem Kinn, wie ich damals selbst eines an meinem neuen Strohhut hatte. Ich entsinne mich nicht, gesehen zu haben, wie der Zug sich in Bewegung setzte, auch von Blumen und Lichtern weiß ich nichts mehr. Meine Erinnerung hebt erst wieder in der Dämmerung dieses Tages an. Da sehe ich mich in dem Hofzimmer und war allein. An der Kante des Speisetisches, an dem ich so oft die Rute bekommen, weil ich nie die Suppe essen wollte, stand ein kleines Krügelgläschen, halbvoll mit Milch, und daneben lag ein Stückchen Semmel. Es kam der Augenblick, da ich mich dieser guten Dinge bemächtigte, die Semmel in die Milch tauchte und sie verzehrte. So hatte ich keinen Hunger zu leiden, und auch gefürchtet habe ich mich nicht; denn man hatte sich in der letzten Zeit nur wenig um mich gekümmert, und ich war gewohnt des Alleinseins. Aber immer finsterer wurde es. Auch dieses schreckte mich nicht. Denn auch sonst pflegte um diese Stunde noch lange kein Licht angezündet zu werden, sondern der Vater nahm mich im finsteren Zimmer auf den Schoß und gab mir Wörter auf, zu denen ich Reime finden mußte, und dies war mir ein liebes Spiel. Heute freilich war der Vater nicht da, und es rührte sich nichts in der Wohnung. Da – dies fühle ich noch heute körperlich! – kam ein Seltsames, Neues über mich: eine Erregung aus mir selbst und ein Bewegtsein der Finsternis um mich herum! Wie lange dies gedauert hat, kann ich nicht mehr ermessen. Als es aber endlich wieder laut geworden war in der Wohnung und der Vater durch die Küchentür eintrat, fand er seinen Knaben im dunklen Zimmer auf dem Boden sitzen. Das leere Glas und ein kleiner Rest der in Milch geweichten Semmel lagen neben ihm, er aber hatte Schuhe und Strümpfe ausgezogen und redete – wie er dies auch schon früher manchmal vor dem abendlichen Einschlafen getan hatte – fieberhaft flüsternd zu seinen eigenen Füßen.