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RILKE, Rainer Maria


Träume, die in deinen Tiefen wallen,

Träume, die in deinen Tiefen wallen,

aus dem Dunkel laß sie alle los.

Wie Fontänen sind sie, und sie fallen

lichter und in Liederintervallen

ihren Schalen wieder in den Schoß.


Und ich weiß jetzt: wie die Kinder werde.

Alle Angst ist nur ein Anbeginn;

aber ohne Ende ist die Erde,

und das Bangen ist nur die Gebärde,

und die Sehnsucht ist ihr Sinn -


Dame vor dem Spiegel


Wie in einem Schlaftrunk Spezerein

löst sie leise in dem flüssigklaren

Spiegel ihr ermüdetes Gebaren;

und sie tut ihr Lächeln ganz hinein.


Und sie wartet, dass die Flüssigkeit

davon steigt; dann gießt sie ihre Haare

in den Spiegel und, die wunderbare

Schulter hebend aus dem Abendkleid,


trinkt sie still aus ihrem Bild. Sie trinkt,

was ein Liebender im Taumel tränke,

prüfend, voller Misstraun; und sie winkt


erst der Zofe, wenn sie auf dem Grunde

ihres Spiegels Lichter findet, Schränke

und das Trübe einer späten Stunde.


Nächtens will ich…


Nächtens will ich mit dem Engel reden,

ob er meine Augen anerkennt.

Wenn er plötzlich fragte: Schaust du Eden?

Und ich müßte sagen: Eden brennt


Meinen Mund will ich zu ihm erheben,

hart wie einer, welcher nicht begehrt.

Und der Engel spräche: Ahnst du Leben?

Und ich müßte sagen: Leben zehrt


Wenn er jene Freude in mir fände,

die in seinem Geiste ewig wird, –

und er hübe sie in seine Hände,

und ich müßte sagen: Freude irrt


Der Ölbaumgarten


Er ging hinauf unter dem grauen Laub

ganz grau und aufgelöst im Ölgelände

und legte seine Stirne voller Staub

tief in das Staubigsein der heißen Hände.


Nach allem dies. Und dieses war der Schluss.

Jetzt soll ich gehen, während ich erblinde,

und warum willst Du, dass ich sagen muss,

Du seist, wenn ich Dich selber nicht mehr finde.


Ich finde Dich nicht mehr. Nicht in mir, nein.

Nicht in den andern. Nicht in diesem Stein.

Ich finde Dich nicht mehr. Ich bin allein.


Ich bin allein mit aller Menschen Gram,

den ich durch Dich zu lindern unternahm,

der Du nicht bist. o namenlose Scham...


Später erzählte man, ein Engel kam - .


Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht

und blätterte gleichgültig in den Bäumen.

Die Jünger rührten sich in ihren Träumen.

Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht.


Die Nacht, die kam, war keine ungemeine;

so gehen hunderte vorbei.

Da schlafen Hunde, und da liegen Steine.

Ach eine traurige, ach irgendeine,

die wartet, bis es wieder Morgen sei.


Denn Engel kommen nicht zu solchen Betern,

und Nächte werden nicht um solche groß.

Die Sich-Verlierenden lässt alles los,

und die sind preisgegeben von den Vätern

und ausgeschlossen aus der Mütter Schoß.


Da leben Menschen, weißerblühte, blasse


und sterben staunend an der schweren Welt.

Und keiner sieht die klaffende Grimasse,

zu der das Lächeln einer zarten Rasse

in namenlosen Nächten sich entstellt.


Sie gehn umher, entwürdigt durch die Müh,

sinnlosen Dingen ohne Mut zu dienen,

und ihre Kleider werden welk an ihnen,

und ihre schönen Hände altern früh.


Die Menge drängt und denkt nicht sie zu schonen,

obwohl sie etwas zögernd sind und schwach, -

nur scheue Hunde, welche nirgends wohnen,

gehn ihnen leise eine Weile nach.


Sie sind gegeben unter hundert Quäler,

und, angeschrien von jeder Stunde Schlag,

kreisen sie einsam um die Hospitäler

und warten angstvoll auf den Einlasstag.


Dort ist der Tod. Nicht jener, dessen Grüße

sie in der Kindheit wundersam gestreift, -

der kleine Tod, wie man ihn dort begreift;

ihr eigener hängt grün und ohne Süße

wie eine Frucht in ihnen, die nicht reift.


Du musst das Leben nicht verstehen,

Du musst das Leben nicht verstehen,

dann wird es werden wie ein Fest.

Und lass dir jeden Tag geschehen

so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen

sich viele Blüten schenken lässt.


Sie aufzusammeln und zu sparen,

das kommt dem Kind nicht in den Sinn.

Es löst sie leise aus den Haaren,

drin sie so gern gefangen waren,

und hält den lieben jungen Jahren

nach neuen seine Hände hin.


Du bist die Zukunft, großes Morgenrot

Du bist die Zukunft, großes Morgenrot
über den Ebenen der Ewigkeit.
Du bist der Hahnschrei nach der Nacht der Zeit,
der Tau, die Morgenmette und die Maid
der fremde Mann, die Mutter und der Tod.


Du bist die sich verwandelnde Gestalt
die immer einsam aus dem Schicksal ragt,
die unbejubelt bleibt und unbeklagt
und unbeschrieben wie ein wilder Wald.


Du bist der Dinge tiefer Inbegriff,
der seines Wesens letztes Wort verschweigt
und sich den Andern immer anders zeigt:
dem Schiff als Küste und dem Land als Schiff.



Orpheus. Eurydike. Hermes

Das war der Seelen wunderliches Bergwerk.

Wie stille Silbererze gingen sie

als Adern durch sein Dunkel. Zwischen Wurzeln

entsprang das Blut, das fortgeht zu den Menschen,

und schwer wie Porphyr sah es aus im Dunkel.

Sonst war nichts Rotes.


Felsen waren da

und wesenlose Wälder. Brücken über Leeres

und jener große graue blinde Teich,

der über seinem fernen Grunde hing

wie Regenhimmel über einer Landschaft.

Und zwischen Wiesen, sanft und voller Langmut,

erschien des einen Weges blasser Streifen,

wie eine lange Bleiche hingelegt.



Begegnung in der Kastanien-Allee


aus grüner Sonne, wie aus grünen Scheiben,

weiß eine einzelne Gestalt

aufleuchtete, um lange fern zu bleiben

und schließlich, von dem Lichterniedertreiben

bei jedem Schritte überwallt,


ein helles Wechseln auf sich herzutragen,

das scheu im Blond nach hinten lief.

Aber auf einmal war der Schatten tief,

und nahe Augen lagen aufgeschlagen



Für Erika 2


Ob ich regnen kann, ich weiß es nicht,

über Dir Du sanfteste der Matten.

Vielleicht bin ich nur der Wolkenschatten,

der Dein Glühendliegen unterbricht.


Bin der Wind, der diese Wolke treibt,

bin ihr leicht verwandeltes Volumen,

bin die Macht, die Deinen klaren Blumen

schattige Verhaltung einverleibt.



Einsamkeit


Die Einsamkeit ist wie ein Regen.

Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;

von Ebenen, die fern sind und entlegen,

geht sie zum Himmel, der sie immer hat.

Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.


Regnet hernieder in den Zwitterstunden,

wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen

und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,

enttäuscht und traurig von einander lassen;

und wenn die Menschen, die einander hassen,

in einem Bett zusammen schlafen müssen:

dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen…


Träumen XIV


Möchte mir ein blondes Glück erkiesen;

doch vom Sehnen bin ich müd und Suchen. –

Weiße Wasser gehn in stillen Wiesen,

und der Abend blutet in die Buchen.


Mädchen wandern heimwärts. Rot im Mieder

Rosen; ferneher verklingt ihr Lachen …

Und die ersten Sterne kommen wieder

und die Träume, die so traurig machen.


Das Stundenbuch


Du bist das Kloster zu den Wundenmalen.

Mit zweiunddreißig alten Kathedralen

und fünfzig Kirchen, welche aus Opalen

und Stücken Bernstein aufgemauert sind.

Auf jedem Ding im Klosterhofe

liegt deines Klanges eine Strophe,

und das gewaltige Tor beginnt.


In langen Häusern wohnen Nonnen,

Schwarzschwestern, siebenhundertzehn.

Manchmal kommt eine an den Bronnen,

und eine steht wie eingesponnen,

und eine, wie in Abendsonnen,

geht schlank in schweigsamen Alleen.


Aber die Meisten sieht man nie;

sie bleiben in der Häuser Schweigen

wie in der kranken Brust der Geigen

die Melodie, die keiner kann...


Und um die Kirchen rings im Kreise,

von schmachtendem Jasmin umstellt,

sind Gräberstätten, welche leise

wie Steine reden von der Welt.

Von jener Welt, die nichtmehr ist,

obwohl sie an das Kloster brandet,

in eitel Tag und Tand gewandet

und gleichbereit zu Lust und List.


Sie ist vergangen: denn du bist.

Sie fließt noch wie ein Spiel von Lichtern

über das teilnahmslose Jahr;

doch dir, dem Abend und den Dichtern

sind, unter rinnenden Gesichtern,

die dunkeln Dinge offenbar.


Herbsstimmung


Die Luft ist lau, wie in dem Sterbezimmer,

an dessen Türe schon der Tod steht still;

auf nassen Dächern liegt ein blasser Schimmer,

wie der der Kerze, die verlöschen will.


Das Regenwasser röchelt in den Rinnen,

der matte Wind hält Blätterleichenschau; -

und wie ein Schwarm gescheuchter Bekassinen

ziehn bang die kleinen Wolken durch das Grau


Ernste Stunde


Wer jetzt weint irgendwo in der Welt,

ohne Grund weint in der Welt,

weint über mich.


Wer jetzt lacht irgendwo in der Nacht,

ohne Grund lacht in der Nacht,

lacht mich aus.


Wer jetzt geht irgendwo in der Welt,

ohne Grund geht in der Welt,

geht zu mir.


Wer jetzt stirbt irgendwo in der Welt,

ohne Grund stirbt in der Welt:

sieht mich an.



Das Karussell


Jardin du Luxembourg


Mit einem Dach und seinem Schatten dreht

sich eine kleine Weile der Bestand

von bunten Pferden, alle aus dem Land,

das lange zögert, eh es untergeht.

Zwar manche sind an Wagen angespannt,

doch alle haben Mut in ihren Mienen;

ein böser roter Löwe geht mit ihnen

und dann und wann ein weißer Elefant.


Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,

nur dass er einen Sattel trägt und drüber

ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.


Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge

und hält sich mit der kleinen heißen Hand

dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.

Und dann und wann ein weißer Elefant.


Und auf den Pferden kommen sie vorüber,

auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge

fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge

schauen sie auf, irgendwohin, herüber –.


Und dann und wann ein weißer Elefant.

Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,

und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.

Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,

ein kleines kaum begonnenes Profil –.

Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,

ein seliges, das blendet und verschwendet

an dieses atemlose blinde Spiel ...



Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?


Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?

Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?)

Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?)


Bin dein Gewand und dein Gewerbe,

mit mir verlierst du deinen Sinn.


Nach mir hast du kein Haus, darin

dich Worte, nah und warm, begrüssen.

Es fällt von deinen müden Füssen

Die Samtsandale, die ich bin.


Dein grosser Mantel lässt dich los.

Dein Blick, den ich mit meiner Wange

warm, wie mit einem Pfühl, empfange,

wird kommen, wird mich suchen, lange -

und legt beim Sonnenuntergänge

sich fremden Steinen in den Schoss.

Was wirst du tun, Gott? Ich bin bange.


Das Land ist licht und dunkel ist die Laube


Das Land ist licht und dunkel ist die Laube,

und du sprichst leise und ein Wunder naht.

Und jedes deiner Worte stellt mein Glaube

als Betbild auf an meinen stillen Pfad.

Ich liebe dich. Du liegst im Gartenstuhle,

und deine Hände schlafen weiß im Schooß.

Mein Leben ruht wie eine Silberspule

in ihrer Macht. Lös meinen Faden los.


Für eine Freundin
…..
So starbst du, wie die Frauen früher starben,

altmodisch starbst du in dem warmen Hause

den Tod der Wöchnerinnen, welche wieder

sich schließen wollen und es nicht mehr können,

weil jenes Dunkel, das sie mitgebaren,

noch einmal wiederkommt und drängt und eintritt.
…..


Schlaflied

Einmal wenn ich dich verlier,

wirst du schlafen können, ohne

dass ich wie eine Lindenkrone

mich verflüstre über dir?

Ohne dass ich hier wache und

Worte, beinah wie Augenlider,

auf deine Brüste, auf deine Glieder

niederlege, auf deinen Mund.

Ohne dass ich dich verschließ

und dich allein mit Deinem lasse

wie einen Garten mit einer Masse

von Melissen und Stern-Anis.


Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.

Sie sprechen alles so deutlich aus:

Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,

und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,

sie wissen alles, was wird und war;

kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;

ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.

Die Dinge singen hör ich so gern.

Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.

Ihr bringt mir alle die Dinge um.


Spaziergang

Schon ist mein Blick am Hügel, dem besonnten,

dem Wege, den ich kaum begann, voran.

So fasst uns das, was wir nicht fassen konnten,

voller Erscheinung, aus der Ferne an—

und wandelt uns, auch wenn wirs nicht erreichen,

in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind;

ein Zeichen weht, erwidernd unserm Zeichen . . .

Wir aber spüren nur den Gegenwind.


Der Panther

Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe

so müd geworden, dass er nichts mehr hält.

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe

und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,

der sich im allerkleinsten Kreise dreht,

ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,

in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille

sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,

geht durch der Glieder angespannte Stille -

und hört im Herzen auf zu sein.


Venezianischer Morgen

Richard Beer-Hofmann zugeeignet

Fürstlich verwöhnte Fenster sehen immer,

was manchesmal uns zu bemühn geruht:

die Stadt, die immer wieder, wo ein Schimmer

von Himmel trifft auf ein Gefühl von Flut,

sich bildet ohne irgendwann zu sein.

Ein jeder Morgen muß ihr die Opale

erst zeigen, die sie gestern trug, und Reihn

von Spiegelbildern ziehn aus dem Kanale

und sie erinnern an die andern Male:

dann giebt sie sich erst zu und fällt sich ein

wie eine Nymphe, die den Zeus empfing.

Das Ohrgehäng erklingt an ihrem Ohre;

sie aber hebt San Giorgio Maggiore

und lächelt lässig in das schöne Ding.




Bei dir ist es traut


Bei dir ist es traut:

Zage Uhren schlagen

wie aus weiten Tagen.

Komm mir ein Liebes sagen -

Aber nur nicht laut.


Ein Tor geht irgendwo

draussen im Blütentreiben.

Der Abend horcht an den Scheiben.

Lass uns leise bleiben:

Keiner weiss von uns.



Bij jou voel ik me thuis


Bij jou voel ik me thuis:

schuwe klokken slaan

als in verre dagen.

Kom, vertel me je liefde,

maar dan zachtjesaan.


Een poort leidt ergens heen,

naar de bloesems buiten.

De avond luistert aan de ruiten.

Laten we stil blijven:

niemand weet ons wonen.


Vertaling: Zaj DE MEESTER




Herr: es ist Zeit

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.

Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,

und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;

gib ihnen noch zwei südlichere Tage,

dränge sie zur Vollendung hin und jage

die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,

wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben

und wird in den Alleen hin und her

unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.


Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen

Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen,

aus jeder Wendung weht es her: Gedenk!

Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen,

entschließt im künftigen sich zum Geschenk.

Wer rechnet unseren Ertrag? Wer trennt

uns von den alten, den vergangnen Jahren?

Was haben wir seit Angebinn erfahren,

als dass sich eins im anderen erkennt?

Als dass an uns Gleichgültiges erwarmt?

O Haus, o Wiesenhang, o Abendlicht,

auf einmal bringst du's beinah zum Gesicht

und stehst an uns, umarmend und umarmt.

Durch alle Wesen reicht der eine Raum:

Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still

durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,

ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.

Ich sorge mich, und in mir steht das Haus.

Ich hüte mich, und in mir ist die Hut.

Geliebter, der ich wurde: an mir ruht

der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus.


Der Tod der Geliebten

Er wusste nur vom Tod was alle wissen:
dass er uns nimmt und in das Stumme stößt.
Als aber sie, nicht von ihm fortgerissen,
nein, leis aus seinen Augen ausgelöst,

hinüberglitt zu unbekannten Schatten,
und als er fühlte, dass sie drüben nun
wie einen Mond ihr Mädchenlächeln hatten
und ihre Weise wohlzutun:

da wurden ihm die Toten so bekannt,
als wäre er durch sie mit einem jeden
ganz nah verwandt; er ließ die andern reden

und glaubte nicht und nannte jenes Land
das gutgelegene, das immersüße -
Und tastete es ab für ihre Füße.


Lösch mir die Augen aus…

Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,

wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,

und ohne Füße kann ich zu dir gehen,

und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.

Brich mir die Arme ab,

ich fasse dich mit meinem Herzen wie mit einer Hand.

Halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,

und wirfst du in mein Hirn den Brand,

so werd ich dich auf meinem Blute tragen.


Der Leser

Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht
wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten,
das nur das schnelle Wenden voller Seiten
manchmal gewaltsam unterbricht?

Selbst seine Mutter wäre nicht gewiss,
ob er es ist, der da mit seinem Schatten
Getränktes liest. Und wir, die Stunden hatten,
was wissen wir, wieviel ihm hinschwand, bis

er mühsam aufsah: alles auf sich hebend,
was unten in dem Buche sich verhielt,
mit Augen, welche, statt zu nehmen, gebend
anstießen an die fertig-volle Welt:

wie stille Kinder, die allein gespielt,
auf einmal das Vorhandene erfahren;
doch seine Züge, die geordnet waren,
blieben für immer umgestellt.


Ich war ein Kind und traümte viel

Ich war ein Kind und träumte viel
und hatte noch nicht Mai;
da trug ein Mann sein Saitenspiel
an unserm Hof vorbei.
Da hab ich bange aufgeschaut:
"O Mutter, lass mich frei..."
     Bei seiner Laute erstem Laut
     brach etwas mir entzwei.

Ich wusste, eh sein Sang begann:
Es wird mein Leben sein.
Sing nicht, sing nicht, du fremder Mann:
Es wird mein Leben sein.
Du singst mein Glück und meine Müh,
mein Lied singst du und dann:
mein Schicksal singst du viel zu früh,
so dass ich, wie ich blüh und blüh, -
es nie mehr leben kann.

Er sang. Und dann verklang sein Schritt, -
er musste weiterziehn;
und sang mein Leid, das ich nie litt,
und sang mein Glück, das mir entglitt,
und nahm mich mit und nahm mich mit -
und keiner weiß wohin...


Herbst

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.


Liebeslied

Wie soll ich meine Seele halten, das

sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie

hinheben über dich zu andern Dingen?

Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas

Verlorenem im Dunkel unterbringen

an einer fremden stillen Stelle, die

nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.

Doch alles, was uns anrührt, dich und mich

nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich

der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.

Auf welches Instrument sind wir gespannt?

Und welcher Geiger hat uns in der Hand?

O süsses Lied.


Auszug aus Requiem für Paula Modersohn Becker

Komm her, wir wollen eine Weile still sein.

Sieh diese Rose an auf meinem Schreibtisch.

Ist nicht das Licht um sie genauso zaghaft wie über dir;

sie dürfte auch nicht hier sein.

Im Garten draußen, unvermischt mit mir,

hatte sie bleiben müssen oder hingehn -

nun währt sie so: was ist ihr mein Bewußtsein?
…..


Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden


Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden,

in welchen meine Sinne sich vertiefen;

in ihnen hab ich, wie in alten Briefen,

mein täglich Leben schon gelebt gefunden

und wie Legende weit und überwunden.


Aus ihnen kommt mir Wissen, dass ich Raum

zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.

Und manchmal bin ich wie der Baum,

der, reif und rauschend, über einem Grabe

den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe

(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)

verlor in Traurigkeiten und Gesängen.


Eine Sibylle


Einst, vor Zeiten, nannte man sie alt.

Doch sie blieb und kam dieselbe Straße

täglich. Und man änderte die Maße,

und man zählte sie wie einen Wald


nach Jahrhunderten. Sie aber stand

jeden Abend auf derselben Stelle,

schwarz wie eine alte Citadelle

hoch und hohl und ausgebrannt;


von den Worten, die sich unbewacht

wider ihren Willen in ihr mehrten,

immerfort umschrieen und umflogen,

während die schon wieder heimgekehrten

dunkel unter ihren Augenbogen

saßen, fertig für die Nacht.