WESENDONCK, Mathilde


Träume


Sag, welch wunderbare Träume

Halten meinen Sinn umfangen,

Daß sie nicht wie leere Schäume

Sind in ödes Nichts vergangen?


Träume, die in jeder Stunde,

Jedem Tage schöner blühn,

Und mit ihrer Himmelskunde

Selig durchs Gemüte ziehn!


Träume, die wie hehre Strahlen

In die Seele sich versenken,

Dort ein ewig Bild zu malen:

Allvergessen, Eingedenken!


Träume, wie wenn Frühlingssonne

Aus dem Schnee die Blüten küßt,

Daß zu nie geahnter Wonne

Sie der neue Tag begrüßt,


Daß sie wachsen, daß sie blühen,

Träumend spenden ihren Duft,

Sanft an deiner Brust verglühen,

Und dann sinken in die Gruft.



Der Engel


In der Kindheit frühen Tagen

Hört ich oft von Engeln sagen,

Die des Himmels hehre Wonne

Tauschen mit der Erdensonne,


Daß, wo bang ein Herz in Sorgen

Schmachtet vor der Welt verborgen,

Daß, wo still es will verbluten,

Und vergehn in Tränenfluten,


Daß, wo brünstig sein Gebet

Einzig um Erlösung fleht,

Da der Engel niederschwebt,

Und es sanft gen Himmel hebt.


Ja, es stieg auch mir ein Engel nieder,

Und auf leuchtendem Gefieder

Führt er, ferne jedem Schmerz,

Meinen Geist nun himmelwärts!



Stehe still!


Sausendes, brausendes Rad der Zeit,

Messer du der Ewigkeit;

Leuchtende Sphären im weiten All,

Die ihr umringt den Weltenball;

Urewige Schöpfung, halte doch ein,

Genug des Werdens, laß mich sein!


Halte an dich, zeugende Kraft,

Urgedanke, der ewig schafft!

Hemmet den Atem, stillet den Drang,

Schweiget nur eine Sekunde lang!

Schwellende Pulse, fesselt den Schlag;

Ende, des Wollens ew'ger Tag!

Daß in selig süßem Vergessen

Ich mög' alle Wonne ermessen!


Wenn Auge in Auge wonnig trinken,

Seele ganz in Seele versinken;

Wesen in Wesen sich wiederfindet,

Und alles Hoffens Ende sich kündet,

Die Lippe verstummt in staundendem Schweigen,

Keinen Wunsch mehr will das Innre zeugen:

Erkennt der Mensch des Ew'gen Spur,

Und löst dein Rätsel, heil'ge Natur!